Ole kann alles. Ole tut zwar immer wieder so, als habe er sich jetzt aber echt übernommen, und das wäre nun wirklich nicht zu machen, aber dann rauscht das Objekt durch Zeit und Raum, guckt überall mal vorbei und macht dann weg, was selbst der Große Houdini nicht wegbekommen hätte. Der Ole, der kann’s. Ich nicht.
Ole ist Billardtrainer. Optisch ein Rimowa-Köfferchen in schwarzen Klamotten und mit Zopf. Inhaltlich eine Wundertüte am Taschentisch. Heute will er’s uns 8en beibringen – Billard oder Snooker oder eine der 34 weiteren Varianten. Tatsächlich geht es bei uns nur ums Treffen. Im doppelten Sinn. Denn eigentlich ist das hier eine Weihnachtsfeier.
Erst hieß es: Gibt lecker Häppchen im „Reichshof“ (das ist das Hotel neben dem Schauspielhaus). Da sitzen immer die Mimen in der Lobby, ganz dicht am Fester, damit man sie auch sehen kann, wenn man verfroren durchs Bahnhofsviertel streift. Dann hieß es, ach, spielen wir doch ein bisschen Billard, da gibt es hinten das Casino, da kann man das machen, ist doch netter als nur so ein gesetztes Essen. Und dann kam schließlich, deutsche Unternehmen im Weiterbildungswahn, noch Ole dazu. Ole, der Meister. Ich erinnere mich an Weihnachtsfeiern, bei denen man irgendwann den Kreativ-Direktor aus der Auszubildenden holen musste, sich aber kein einziger der Beteiligten am nächsten Morgen erinnerte, wann und wo das genau war. Gibt’s heutzutage gar nicht mehr, schätze ich. Heutzutage lernt man. Zum Beispiel Billard.
7/8 hatten das schon mal gemacht. Moi hat in der Zeit wahrscheinlich japanische Autorenfilme gesehen und nicht verstanden. Ich mochte das Wort Billard immer und konnte es auch immer schreiben. Beim Queue war das – anders. Man muss die „e“s und „u“s wild durchschütteln, dann passt es irgendwann, so hatte ich mir das gemerkt. Aber ist es nun der, die oder das Queue? Keine Ahnung. Aber das war mein allerkleinstes Problem an diesem Abend.
Ole hält sich nicht lange mit dem Nichtschwimmerzeug auf. Ja, wie man das Stäbchen halten muss, das sagt er uns schon. „Fass das an wie ein Stück Holz. Als wäre das voll uninteressant, so musst du das machen“, sagt er. Uninteressiert sein? Kann ich. Andere nicht. „Du bist zu interessiert! Du bist zu aufgeregt!“, irgendwie ahnt man, dass es genau diese Menschen sind, die im Leben alles geregelt bekommen, während man selbst es uninteressiert anpackt wie ein Stück Holz. Und vergeigt.
Ich war gar nicht uninteressiert. Aber ich habe versucht, an was anderes zu denken. Und weil ich nicht zwei Sachen gleichzeitig denken kann, schwupps, richtiger Griff. Danach war es das aber schon mit den Deppendingen. Jetzt geht’s los.
Geisterbälle. Liegen unsichtbar vor den tatsächlichen, man muss sie anvisieren und dann gnadenlos durchziehen. In der gelernten Haltung. Also Augen über dem Queue, aus dem Ellenbogen heraus stoßen, weil das ein gerades Gelenk ist, nur Unterarm, Pendelbewegung. Dann soll ich das machen. Aber wie denn? Ich weiß gerade nicht einmal, wie man steht oder wo meine Augen überhaupt sind, wie soll ich die über dendiedas Queue bringen? „Guck, da ist die Geisterkugel“, raunt Ole „hast Du sie?“, „Nein!, antworte ich, „Wie soll ich das Ding hier festhalten?“ Hat er uns vier Mal erklärt. Habe ich wohl fünf Mal nicht begriffen. Irgendwann stimmt alles so halbwegs mit Griff und Blick und Haltung und Gesinnung. „Hier ist die Geisterkugel“, sagt Ole noch einmal „und jetzt, jetzt ist sie weg. Stoß!“ Und dann geschieht das Wunder vom Reichshof. Das ultimative Weihnachtsmärchen. Ich ziele ins Geisternichts – und versenke die Kugel! Ja, man muss mit dem Stoß durch die Kugel gehen, und ich habe sie nur angestupst wie man das auch bei einem toten Fisch machen würde, um zu sehen, ob er noch zuckt. Aber: bämm – versenkt das Teil! Das steht in der Geschichtsschreibung, bämm – versenkt, nichts sonst!
Ole erklärt dann noch ganz viel. Von der 90-Grad-Regel ist die Rede und wie man einen Ball nach hinten flutschen lässt, Nachläufer, der Typ, der die weiße Kugel erst einmal in die Luft donnert und so weiter, aber da bin ich schon längst bei Herrn Jäger. Herr Jäger war mein Physiklehrer in der siebten Klasse. Diese Fummelei mit den Schaltkreisen! Schon damals war ich nicht so recht bei der Sache, sondern vielmehr fasziniert von des Herrn Jägers Bart, der rübezahlesk war. Heute wäre er der totale Hipster damit. Damals nicht. Man muss nur lange genug durchhalten. Tja, wem sage ich das? Hätte ich in Physik nicht immer nur auf den Bart geguckt, könnte ich heute Billardtische abräumen, das ist die Lehre für die Nachfolgenden.
Und während wir zwischendurch immer wieder das ausprobieren, was Ole uns so erzählt, und es seltsamerweise auch immer wieder klappt, merke ich, dass ich mich der Erkenntnis des Abends nähere. Und dass wir wahrscheinlich genau wegen dieser heute Billard spielen, unsere Häppchen nur am Rande genießen und viel weniger trinken, als es sich für Weihnachtsfeiern gehört.
Ole sagt schließlich doch noch was zu den Regeln und den grundsätzlichen Gegebenheiten und was weiß ich, aber uns beschäftigen ganz andere Fragen: Was muss man machen, damit man nicht das Tuch zerschlitzt (nix, kriegt man gar nicht hin), was passiert, wenn die weiße Kugel so liegt, dass man sie gar nicht spielen KANN (man kann immer, sagt Ole. Kann man NICHT, erleben wir später alle). Warum tragt ihr immer schwarze Klamotten? Spielt man besser, wenn man trinkt? Warum heißt das Bockhand? Gibt es dendiedas Qeue auch in viel dicker? Was ist, wenn ich alle vollen Kugeln reinmache und mein Gegner keine einzige, ich aber die halbvollen habe? Was ist eigentlich mit dem 2. Trägheitsgesetz? Heißt das überhaupt so oder anders? Was ist denn das bitteschön? Willst Du auch ein Jever trinken, Ole? Ein volles, ein halbes oder 8? Machst du noch ein Kunststück? Oder 2? Macht er. Und spätestens da merkt man: Es hat ein bisschen was von Hütchenspielerei, wenn man ehrlich ist. Nur viel eleganter.
Dann ist der Ole-Unterricht um, und wir dürfen spielen. Und es ist wie immer, wenn der Trainer nicht mehr hinguckt: Man wirft alles Gehörte und Gelernte über Bord und haut einfach raus, was einem der instinktive Dilettantismus in den Arm trompetet. Ab und zu wird noch mal „Geisterball“ oder „90 Grad-Regel“ gerufen, aber dann kommt nur Gekichere, und jemand lässt die Billardkugel so laut scheppern, als hätte ein Steinzeitmensch einem Mammut was mit der Steinschleuder zwischen die Augen gehauen. Die Foul-Regeln werden immer großzügiger ausgelegt, und eigentlich ist foul nur noch, wenn man jemandem dendiedas Queue über den Schädel zieht. Ziehen würde.
Unser Billard macht Spaß, ist spannend und, in meinem Fall, total überraschend. Guck mal, die Kugel fällt ins Loch! Und das wollte ich auch! Warum passiert das denn dann?
Ole ist da natürlich längst gegangen. Muss schmerzen zuzusehen, wie bei seinen galoppierenden Fohlen all die guten Ansätze von der Waschanlage des Frohsinns weggewischt werden. Er hat sich wirklich Mühe gegeben. Und dann endet’s doch wieder so. Aber ganz so schlimm ist es gar nicht. Denn tatsächlich ist meine entscheidende (und jetzt schon 3x angekündigte Erkenntnis): Das Einzige, was verhindert besser zu werden, ist, dass man sich nicht traut!
Nicht schlecht, oder? Und bestimmt voll im Sinne des arbeitgebenden Veranstalters, denke ich. Auch wenn der sich wahrscheinlich wünscht, dass man nicht ganz so viele dramatisch verunglückte Versuche braucht.
Es heißt übrigens der oder das Queue. Und das besteht aus Leder (Pomeranze), Ferrule, Oberteil, Schaft, Zierring, Joint, Unterteil, Griffband und Butt Cap. Ja, alles lustig, haha. Der Schlachtruf heißt „Gut Stoß“. Haben wir natürlich auch gefragt. Immer direkt zum Wesentlichen. Apropos:
Erstes Mal auch letztes Mal? Nicht unbedingt. Vielleicht probiere ich es zu Ostern noch einmal; scheint mir passend.