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Das erste Mal: Elbphilharmonie

In einer Zeit, in der die Dummen, die Bösen und die Überheblichen Wort und Tat an sich reißen, ist es das Beste, zwischendurch ein paar Stunden an einem der Orte zu verbringen, die traditionell dem „Wahren, Guten, Schönen“ gewidmet sind. Und weil manchmal, sehr selten, aber manchmal eben doch, alles im Leben passt, gewinnt die beste Begleiterin 2 Karten für die Elbphilharmonie. Präzise gesagt für die Probe von Sasha Waltz & Guests, die hier am 1. Januar etwas auf die tänzerischen Beine stellen wollen. Aber da bisher nicht ganz feststeht, wo es wie langgehen soll, tasten sie Stoff und Ort vorher noch einmal ab, und erfreulich viele Losglückliche dürfen ihnen dabei zuschauen.

Karten für Veranstaltungen in der Elbphilharmonie werden gehandelt wie Feinstrumpfhosen in Nachkriegsdeutschland oder mehr noch wie – nein, in einer Zeit, in der man ja irgendwie an alles kommt, gibt es keinen Vergleich. Denn die Karten für die Elbphilharmonie sind ausverkauft bis gefühlt 2019. Jetzt hier zu sein ist also Geschenk, Privileg und Glück zugleich. Moi hat natürlich wieder Angst, weil viele Menschen, viel Stehen, viel verstehe-ich-nicht, viel kalt. Alles schnickschnack, außer kalt. Kalt aber auch nur am Anfang, als man sich auf der Plaza herumdrücken muss, bevor es losgeht. Und das Nichtverstehen ist völlig egal, weil die Einzige, die es hundertprozentig versteht, ist wahrscheinlich Sasha Waltz. Vielleicht noch ihr Mann. Der Rest versteht ein bisschen was, ahnt ein Gutteil und spekuliert ansonsten wild ins Kraut. Was völlig okay ist, was sogar ganz richtig ist, denn so wie ich das mit der Kultur bisher verstanden habe, geht es genau darum, eben nicht 2+2 auszurechnen, sondern sein eigenes Gehirn ins Rollen kommen zu lassen, und ob der Künstler sich das dann so gedacht hat oder nicht, ist nicht extrem wichtig. Früher habe ich immer trompetet: Für einen neuen Gedanken bezahle ich gerne den Preis einer Theaterkarte (allerdings nur den billigsten Platz. Denn wer weiß, um was für einen Gedanken es sich handelt, außerdem kennt man sich ja schon länger und weiß, da kullern nicht immer Diamanten der Erkenntnis aus einem heraus, allzu oft sind es eher Torfbröckchen). Heute trompete ich nicht mehr, aber ich freue mich viel mehr, vor allem, wenn ich etwas sehe, was ich noch nicht gesehen habe. Und so etwas wie „Figure Humaine“ habe ich noch nicht gesehen. Sasha Waltz und ihre Tänzer schon, aber natürlich in einem anderen Stück, vor allem aber in Berlin und eben nicht in dieser phantastischen, phantastischen, phantastischen Elbphilharmonie, in der man an diesem Tag circa 70 Millionen Mal den Satz hört „Das ist doch völlig egal, wie viel die Hütte gekostet hat, das ist so, so großartig hier!“

Und darum geht’s an diesem späten Nachmittag, frühen Abend: Zu Musik von Hildegard von Bingen, Bartók, Ligeti, Schostakowitsch und noch welchen tanzen und musizieren sich diese unglaublichen Künstler durch das ganze Haus. Na ja, „Haus“. Durch dieses architektonische Kunstwerk, um mal platzhalterisch diesen Ausdruck zu verwenden, bis mir endlich ein treffender einfällt. Das Thema: Das Leben des und der Menschen, also alles, und ehrlich gesagt: warum auch weniger?

Sasha Waltz läuft wie ein mit einer Flüstertüte ausgestattetes Wiesel kreuz und quer, beobachtet, taxiert, denkt, denkt, denkt, sagt auch mal zu zwei Tänzern: „Ihr müsst seit zwei Minuten weiter sein!“. Die Tänzer sind junge und ein bisschen ältere Männer und Frauen, offensichtlich aus aller Welt. Die Musiker ebenso und sichtlich gutgelaunt. Männer mit Headsets wispern Informationen in ihre kleinen Mikros. Und das Publikum? Staunt. Läuft der Musik und dem Tanz hinterher, aber der findet ja überall statt, sodass es keinen Treck gibt, sondern viele Bäche oder Adern, ja, es ist als zögen sich Adern, blutvolle, pulsierende Adern von Akteuren und Zuschauern durch die Elbphilharmonie. Letztere beobachten die Choreografie, versuchen, sich einen Reim darauf zu machen oder genießen es einfach zuzuschauen, was da ist oder entsteht. Man geht und plötzlich zieht zehn Zentimeter neben einem eine kleine Tänzerkarawane vorbei, und es gibt wie immer die Leute, die spüren intuitiv, wenn sich etwas nähert, und es gibt diejenigen – nun ja, die an der Kasse eine halbe Stunde das Kleingeld abzählen, in der vollen S-Bahn ihre dicke Tasche auf den Sitz neben sich stellen, einem von einem tollen Buch erzählen und das Ende verraten.

Mal sieht man was, mal sieht man nicht so viel, mal hat man das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein, mal hat man das Gefühl, die Musik spielt gerade woanders. Zwischendurch muss man auf die Toilette, und selbst das ist eine Freude, denn die Elbphilharmonie hat die schönsten T-Hinweisschilder überhaupt, der Raum selbst eine Panoramascheibe zum Wasser, wie aufmerksam das ist!, und mittlerweile sind alle so hingerissen, dass eine Frau auf der Suche nach Papiertüchern den Abfallkorb befingert und sagt: „Das ist bestimmt so ein hochmodernes Ding, wenn ich da jetzt den Knopf finde…“, findet sie aber nicht, denn ausnahmsweise ist der Abfallkorb wirklich nur der Abfallkorb und Papiertücher gibt es bisher nicht. Aber wie toll ist das denn? Wir sind vor den Papiertüchern in der Elbphilharmonie!

Und zum Schluss geht es tatsächlich in den Großen Saal. Man muss das anders schreiben. ES GEHT IN DEN GROSSEN SAAL! Wie heißt das Gefühl, wenn sich „atemberaubend“ und „Gänsehaut“ treffen und man gerne ein bisschen weinen würde, sich aber zu sehr freut, dazu auch ein bisschen demütig, dankbar, eingeschüchtert und auf so eine unerklärliche Weise stolz ist? Na ja, das ist es jedenfalls grob.

Problem: Hier darf noch keine Musik gespielt werden. Also gibt Sasha Waltz ihren 33 Tänzern ein paar Anweisungen. Die entsprechend husten, gähnen, lachen, klatschen, sich rekeln, die Sitze klappen – Rhythmus entsteht. Dann gehen die Musiker auf der Bühne. Und spielen. 4.33 lang die Anweisung von John Cage „tacet“… Den donnernden, wirklich donnernden Applaus bekommen die Musiker, nicht die Idee . Weil man weiß, die Musiker würden den Raum auch mit jeder anderen Anweisung großartig erklingen lassen.

Das war es dann auch schon. Zweieinhalb Stunden Elbphilharmonie, Sasha Waltz und ihren vielen Künstlern bei der Arbeit zuschauen. Angeblich geht es ja darum, dass man zur Premiere des neuen Jahres und vor allem dieses Hauses den ganzen Ort erspielt, ihn erkundet. Vielleicht geht es aber eher darum zu spüren, dass man das Glück suchen, entdecken und erkennen muss. Dass man es nicht sieht, wenn man stehenbleibt und nur an der eigenen Kümmergestalt herunterschaut. Dass das Fremde nichts Bedrohliches hat, wenn man sich verständigt und vor allem in die Augen sieht. Dass es Dinge gibt, die gleichzeitig viel älter und viel moderner sind als dieses ganze Jetzt-Gehacke, viel wertvoller. Vielleicht geht es darum, wie wir uns, ganz ungewollt, begegnen, berühren, beeinflussen, uns erkunden, auseinandergehen, verlieren, dass wir nur Sekunden sind, pochende Sekunden; und weil das Leben eben nur so kurz ist und immer, immer vergeblich, aber vorher so aufregend und unbedingt auszuschöpfen, warum soll man dann böse oder dumm sein, warum soll man schaden, zerstören, wenn doch das Wahre-Gute-Schöne so viel wahrer, besser, schöner ist?

Die Rolltreppe, die einen dann wieder in die Hafencity transportiert, ist (natürlich toll, aber auch) auffällig langsam. Anders wäre das auch nicht zu verkraften. Man will bleiben. Und weil das nicht geht, sitzt man ein paar Tage später um 5 vor 11 am Computer, um Restkarten für die tatsächliche Premiere von „Figure Humaine“ am 1. Januar zu ergattern.

Kein Glück. Dieses Mal nicht. 64 Tickerer waren noch vor, ungezählte hinter einem. Sehr enttäuscht und sofort wieder wild entschlossen, es bei der allernächsten Gelegenheit erneut zu versuchen, an ein irgendein Ticket zu gelangen. Preis egal. Das hat die Elbphilharmonie schon mal geschafft. Mal sehen, ob der Berliner Flughafen da mithalten kann; irgendwann.

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