Es ist nicht schön da draußen. Ein Spätherbst-, Frühwinter-Donnerstag, dunkelgraues Geniesele, das einem die Brille verschleiert und über Thermounterwäsche nachdenken lässt. Oder was aus Lammwolle. Hamburg, die schönste Stadt der Welt? Klammfiese Mistblase beschreibt’s wahrer. Bis man –
die Drehtür in Gang setzt und im „Atlantic“ steht. Welches Jahr schreiben wir? 1910? Oder sind wir schon in den 50ern? 2016?? Kann alles sein. Und das ist wunderbar. Endlich mal keine ausgebufft-schlichten Hochglanzkonstruktionen jenseits der „Grundlagen der Physik, Oberstufe 7-10“ oder „Nimm diese Schürfwunde, Bastard!“-Mörtelquader. Sondern bequeme Sessel, Tische, die über die Krabbelhöhe hinauskommen, Besteck, das man in schlechten Zeiten gegen einen Sonntagsbraten eintauschen kann, das ganze sich bewährt habende Zeug, Corporate Design: Frauen in Öl, 17. Jahrhundert.
Die beste Begleiterin bestellt einen Tee, dessen Namen so lang ist wie der eines fränkischen Adligen. Man selbst ist heute nicht in origineller Stimmung. In gar keiner eigentlich. Also Latte Macchiato, bitte. Und dazu: Passionstörtchen mit zwei Gabeln. Dann gucken wir mal.
Ein junger Mann geht durch die Lobby, beschleunigt plötzlich seinen Schritt und begrüßt einen an einem der Tische sitzenden älteren Mann so herzlich, dass einem die Augen feucht werden. Warum? Genau so will man auch mal wieder jemanden begrüßen. Dann präsidiert da eine Asiatin, die man offensichtlich aus einer HBO-Serie herausgeschnitten und in diesem Ledersessel platziert hat, sehr cool, sehr sexy, nicht ganz glaubhaft. Ein einsamer Geschäftsmann, der sich alles ganz genau anschaut. Ein Mann und eine Frau, die an einem Projekt arbeiten, sich dabei aber immer wieder gemeinsam über einen Computer beugen und kichern. Ein arabisches Grüppchen, das wahnsinnig schnell redet. Worüber reden die so schnell? Gibt es Themen, die unbedingt sehr schnell besprochen werden müssen? Überall leuchten die Äpfel auf den Notebooks und gerade das passt so außerordentlich gut zu den Gemälden der Segelschiffe, die zwei Meter höher hängen. Überhaupt die Höhe! Durch die türähnlichen Aussparungen zur Bar könnten auch zwei Basketballspieler übereinander gehen. Die Kronleuchter hängen an den Decken gleich ineinandergeschobenen Sternbildern. Als man den Blick wieder senkt und nach circa fünf Sekunden auf Menschenkopfhöhe angekommen ist, sieht man eine junge Frau, die von zwei Atlantic-Mitarbeiterinnen begrüßt wird. Bewerbungsgespräch, ganz sicher. Und man denkt: Tackere dir schnell was an den Rock! Der ist fünf Zentimeter zu kurz, nein, acht! Man gönnt ihr aus irgendeinem Grund den Job ganz doll, aber das wird doch nichts, mit dem Rock!
Mittlerweile sind natürlich der Kaffee, das Törtchen und der Tee gekommen. Und ein paar Kekse. Die sind dem Geschmack nach wohl wirklich von 1910. Sehen auf ihrer Etagere allerdings toll aus, manchmal reicht das ja. Das Kännchen Tee wird von einer Sanduhr begleitet, damit mit der Ziehzeit alles klappt. Das ist aufmerksam und hübsch. Der Kaffee ist Kaffee und Punkt. Das Törtchen liegt rund und leuchtend da. Und zwar leuchtet es in einem Farbton, der gerne mal wieder Mode werden könnte. Unter diesem Trendton sind drei weitere Schichten, alle super. Auch wenn es darum gar nicht geht, um tolle Törtchen oder knackige Kekse oder in den Bergen Süd-Ost-Chinas per Hand gerollte Teeblätter, die man dann Jasmin Tai Mu Long Zhu Nr. 24 nennt. Es geht darum, hier zu sein. Und nicht da draußen, wo man nichts versteht. Zu gucken. Nicht zu antworten. Langsam immer gelassener zu werden. Zeit nicht herunterticken, sondern verschmelzen zu lassen. So wie es mal gedacht war, bevor wir die Welt in 0 und 1 übersetzt haben, um davon fortan metronomiert zu werden.
Der letzte Nieselregentropfen ist längst aus dem Kragen verdampft. Die letzte Sorge längst vier Jahrzehntkilometer entfernt.
„Willst du hier mal übernachten?“ „Nein, nur sitzen“.
Und das könnte man wirklich ewig. Man erkundigt sich auf so freundliche und glaubwürdige Art, ob bei uns alles in Ordnung ist. Ja. Udo Lindenberg ist auch nicht aufgetaucht. Sehr gut. Es sind sämtliche aktuellen Kleidungsstile in dieser Hotelhalle, in diesem großzügigen Wohnzimmer versammelt, und ein jeder passt hierher. Die Frau, die aussieht wie Jenny Elvers ist Jenny Elvers, und die Dame, die am Stock geht, ist wirklich alt, und der Mann, der eine modische Brille trägt, spricht folgerichtig auch zu laut. Die Bilder sind Originale, die Kacheln auf den Toiletten eindeutig hässlich, und der Mann in seiner kantigen Uniform, der den Kamin anheizt, hat eine kleine Tüte von Budni dabei, darin die Anzünder, die dafür sorgen, dass ein echtes Feuer nicht nur eine schöne Idee bleibt. Alles ist wahr. Wir sind in einem hanseatischen Grand-Hotel. Ist das angenehm. Für morgen sind Sonnenschein und 4 Grad angesagt. Wenn’s damit nichts wird, auch gut. Man kann sich von dieser Stadt vortrefflich zurückziehen.