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Wundern gibt es immer wieder

Dieses Schild vor dem Tresen der HNO-Tagesklinik im Marienkrankenhaus ist das eine. Das andere ist, wenn man das so schreiben darf, jedoch weitaus unglaublicher. Denn das Wesen, das dort neben mir wartet, ist____

Die Tagesklinik ist der ambulante Teil des Krankenhauses. Hier geht man hin, um zum Beispiel die Voruntersuchungen vor dem stationären Aufenthalt machen zu lassen; ich trudele da zu meinen Nachuntersuchungen hin; und ab und zu tauchen auch mal Krankenhauspatienten auf. Gestern stand für mich ein MRT vom Hals auf dem Zettel, um zu sehen, ob aus meinem Atemtreidelpfad nicht doch noch chirurgisch was Zweispuriges gemacht werden könnte und heute ein CT von der Lunge. Der aufrechte Gang der Dinge will, dass ich mich in der Tagesklinik melde, bevor es in die Radiologie geht. Nun gut.

Heute ist das Wartezimmer voll. Alles was es so an Menschen gibt, groß und klein und dick und dünn und ganz proper und total verbeult und zuckerweiß und tobleronebraun und würmchenjung und moosalt, alles da. Ich reihe mich in die Warteschlange ein. Und sehe wieder dieses Diskretionsschild. Wie schon zig Mal. Und jedes Mal lache ich. SO geht man also ins Marienkrankenhaus und wartet darauf, dass einem eine blaubekittelte Schwester tief in die Augen schaut und fragt „Wo haben Sie denn heute bitteschön Ihre Venen gelassen?“! Echt, SO? In einem kastigen 80er-Zwirn, mit dem man auch den Sänger von Spandau Ballet hätte darstellen können? Oder mit so einem schwingenden Kleidchen und schwingenden Frisürchen, deren Trägerin sicher ganz vernarrt in Schirmchencocktails ist? Ich habe gerade geschrieben, heute wäre so ziemlich alles an Menschengestalten hier versammelt. Aber die beiden, nein, die vier – es scheint sich ja um einen regelrechten Dresscode zu handeln! –, die habe ich hier noch nie gesehen. Noch nie! Und ich war inzwischen zu fast allen Jahres- und Öffnungszeiten mal da.

Wie man auf dem Foto erkennt, bleibt übrigens niemand hinter der roten Linie. Jeder tappt da drauf. Sprungbereit. Ein kleines Mädchen (von dem die Mutter gleich beim Reinkommen verkündet, es hätte was mit den Ohren) rennt, sobald jemand in der Warteschlange aufrückt und somit dran ist, immer auch nach vorne und stellt sich neben die Person. Die schaut dann auf das kleine Mädchen runter, das kleine Mädchen schaut hoch, man grinst sich an, aber dann wird das kleine Mädchen doch wieder von der Mutter zurückgerufen, und nach dem fünften Ruf trottelt es auch stocksauer wieder zurück. Vier Mal geht das so. Dann wird sie in einen Behandlungsraum beordert, ohne jemals ins Fenster quatschen zu dürfen. Doof.

Ich warte also, und dann geht die Tür auf, ein Pfleger bringt Nachschub. Der Nachschub sitzt im Rollstuhl, und plötzlich steht dieser rechts neben mir. Ich schaue kurz, wer mir da so nahekommt. Und schaue. Denn neben mir sitzt nicht irgendwer. Neben mir sitzt: Gott. Im Rollstuhl.

Er sieht genauso aus, wie wir alle ihn uns immer vorgestellt haben. Der erste Impuls: Ich muss mit dem iPhone ein Foto machen! Zweiter Impuls: Selfie mit Gott! Herrje. Was sind das denn für Impulse? Neben mir sitzt Gott, und ich frage mich nur, wie ich ein Foto von uns schießen kann?? Abgesehen davon, dass Schwester Sabine mir was gehustet hätte. Fotos im Wartezimmer. Gott hustet übrigens auch. Wahrscheinlich ist er deswegen hier. Wenn Gott Husten hat, geht er also in ein katholisches Krankenhaus. Damit wären ja wohl eine Menge Fragen beantwortet, oder? Plus die, ob Gott eine Frau ist. Definitiv keinesfalls.

Gott sieht ein bisschen verfuddelt aus. Und alt! Mein Gott, ist der alt! Die Fingernägel sollte man ihm mal wieder machen. So ein kleines Maniküre-Engelchen wird sich doch finden. Gottes Wolke ist übrigens in einen weißen Bettbezug mit Blümchenmuster gehüllt. Und er trägt das Krankenhaushemd mit dem zarten blauen Muster.

Gott sagt kein Wort. Gott wartet darauf, dass er drankommt. Gott ist einer von uns. Das ist schön. Dass es Gott nicht besonders gutgeht, ist nicht so schön. Verloren sieht er aus. Ob er ein Einzelzimmer hat? Wenn nicht, wer darf wohl mit ihm in einem Zimmer schlafen?

Jetzt bin ich dran. Schwester Sabine kenne ich auch schon ewig. Sie lächelt mich an und sagt, ich könne gleich rüber in die Radiologie, denn sie hätten sich hier letzte Woche was Neues ausgedacht, sollen die da drüben mir doch den Zugang legen. Schwester Sabine lächelt weiter, und die drei Schwestern, die’s mitkriegen, auch. Warum, weiß ich nicht so recht. Und warum ich eigentlich hier bin, erschließt sich mir ebenfalls nicht. Die halbe Stunde Warterei in der Tagesklinik hätte ich mir sparen können, wenn die eh nichts mit mir machen. Aber dann hätte ich Gott nicht gesehen. Der immer noch wartet. Ohne eine Miene zu verziehen.

Da noch etwas Zeit ist (in der Radiologie hat man feste Termine plus ein bisschen Rumsitzzeit), mache ich einen Schlenker zur Cafeteria (Stückchen Erdbeertorte vielleicht?). Da riecht es aber nach Blumenkohl, und es ist voll von weiß gekleideten Menschen. Der einzige nicht weiß, sondern dunkelblau Gewandete läuft vor der Cafeteria auf und ab. Ein Polizist. Mit unruhigem Blick. Drei Möglichkeiten. A) Er hat Hunger und sucht einen Automaten, weil er Blumenwohlgeruch auch nicht aushält. B) Er sucht Gott, weil der was ausgefressen hat. C) Er sucht Gott, weil er ihn, wie wir alle, was fragen will. Keine Ahnung. Ich verschwinde mal lieber ein bisschen schneller. Auch wenn ich nichts Verbotenes gemacht habe, mutmaßlich. Wo Gott ist, verrate ich dem Polizisten nicht. Jeder muss selbst zu Gott finden.

Als ich dann im Wartezimmer der Radiologie sitze, denke ich noch einmal an Gott. Wohin geht der eigentlich, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird? In den Himmel natürlich, aber an welcher Stelle ist der Aufgang? Und gibt es da einen Treppenlifter? Oder wie macht er das mit dem Rollstuhl? Idiotische Fragen, Gott kann alles, da muss man keine Fragen stellen. Aber dann geht es natürlich doch wieder los: Nimmt man Gott Blut ab? Wollen die eine Urinprobe von ihm? Gesetzlich oder privat versichert? Welche Joghurtsorte mag er wohl am liebsten zum Frühstück? Bekommt er Besuch? Und so geht das immer weiter mit den Fragen, auf die man keine Antwort bekommt. Und meine Untersuchungsergebnisse verraten sie mir auch erst nächste Woche, telefonisch. Hat Gott ein Handy? Oder würde man ihm so etwas per Gebet mitteilen? Hat Gott sich wegen des Klimawandels erkältet? Oder… Schluss jetzt. Aber weiter wundern.

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